Heiße Speisen

Der Mensch verfährt beim Essen meist unvernünftiger als das Tier. Das gilt besonders für den Wärmegrad, den die genossenen Speisen meist enthalten. Kein Tier würde die Speisen anrühren, wenn sie so heiß sind, dass sie noch dampfen. Selbst das unter dem Einfluss und der Einwirkung des Menschen stehende Haustier zieht, wenn man ihm eine Speise vorsetzt, die uns nur lauwarm erscheint, den Schwanz ein und geht davon oder wartet geduldig. Wir dagegen vermögen eine Speise zu essen, die brühwarm aus dem Ofen kommt. Fast kochend essen wir die Suppe, und vom Kaffee sagen wir, dass er so heiß sein muss, dass man ihn nicht trinken kann, wenn er zu trinken sein soll. Und wenn eine Speise nicht mehr dampft, erscheint sie uns schon kalt; dann schimpfen wir gar wohl und meinen, die Speise sei nicht zu essen.

Man probiere es einmal und halte den Finger in die Suppe, die man zu essen angefangen hat: so schnell als möglich wird man den Finger zurückziehen, so heftig schmerzt die Berührung mit der heißen Suppe. Speiseröhre und Magen aber, die mit zarter Schleimhaut bekleidet sind, haben wir daran gewöhnt dass sie das, was der kleine Finger schmerzend empfindet, aufnehmen müssen. Man beobachte kleine Kinder, die noch nicht verbildet sind; solange eine Speise dampft, werden sie dieselbe nicht anrühren; mutet man es ihnen zu, werden sie schreien, sich abwenden, Äußerungen des Ekels zeigen, oder wenn sie schon reden können, rufen: »Au zu heiß.« Aber man lässt ihnen keine Ruhe. Jeden Tag aufs neue bringt man ihnen die dampfenden Speisen, die Mutter selbst gibt dem Kinde das Essen mit dem Löffel ein und widerspricht dem Kind, es sei ja gar nicht mehr heiß, überredet das Kind und zwingt es, die Regungen seines Instinktes und seines natürlichen Gefühls zu unterdrücken und die heiße Speise schnell hinunterzuwürgen. Das geht so weiter jahraus, jahrein, und allmählich, wie könnte es anders sein – gewöhnt sich das Kind daran, die Speisen heiß zu essen: es wird »abge­brüht«, wie man treffend sagt. Es empfindet jetzt keinen Schmerz mehr, es kann es sich gar nicht mehr anders denken, ja, die Gewohnheit erzeugt sogar ein Gefühl der Annehm­lichkeit, es mag jetzt ganz gern so heiß essen, dass die Speisen noch dampfen.

Nur wenige Menschen gibt es, die sich nicht verbilden lassen, bei denen die Stimme der Natur, nicht übertönt und nicht stumm wird, die ihre natürlichen Instinkte sich nicht verfälschen lassen, die zeitlebens Naturkinder bleiben.

Die Speise kommt in den Magen. Ist die Speise zu heiß, so wird der Magen, so werden die Schleimhäute des Magens überreizt, Magenkatarrh und dergleichen stellt sich ein. Der Magen verliert alsdann die Fähigkeit, die Speisen so zu verarbeiten, dass sie weitergeschickt werden können, um schließlich zu arteriellem Blute verarbeitet zu werden. Vielmehr kommen nun die Speisen mangelhaft verarbeitet und mangelhaft eingeschleimt in die Därme, und die Folgezustände sind Erkrankungen der Därme, Verschlechterung des Blutes, mangelhafte Ernährung. Weil es also so ernste Gefahren mit sich bringt, die Speisen heiß einzunehmen, deshalb hat die Natur an die Pforten des Magens Wächter gestellt, welche es dem Menschen vermittels der Schmerzerzeugungen sagen sollen, dass die Speisen eine zu hohe Temperatur haben. Dem Kinde und dem Tiere schmerzt dabei die Speise an den Lippen, an der Zunge, sogar an den Zähnen, und bevor es noch die Speisen an die Lippen bringt, sagt es ihm schon das Auge, dass die Speise zu heiß ist. Zunächst gibt die Natur Warnungssignale ab, Lippen, Zunge verbrennen sich; es kann sogar zur Bläschenbildung kommen. Schließlich aber – wenn Gewöhnung die Signale zum Schweigen bringt, dann treten innerorganische Schmerzen, Erkrankungen und Leiden ein, die dann meist aber gar nicht der wirklichen Ursache zu geschrieben werden.

Wer diesen naturwidrigen Zuständen nicht folgen will, möge sich zum Gesetz machen, niemals eine Speise zu essen, solange sie noch dampft.

Besonders im Winter sucht man sich mit heißen Speisen und Getränken zu erwärmen. Richtig verstanden trifft dies wohl auch zu, denn Zuführung von Wärme bedeutet Zuführung von Energie, doch nur soweit diese Zuführung nicht Schaden anrichtet. Es genügen schon wenige Grade über Blutwärme. Die natürlichste Erwärmung des Blutes aber ist die durch Bewegung, durch Muskeltätigkeit, im Sommer durch fleißige Aufnahme der Sonnenenergie im Sonnenbade, vor allem durch richtige Ausnutzung der Nahrungsenergie durch gesunde Verdauungsorgane, und die sichert man sich nur durch gesunde, naturgemäße Lebensweise.

Einen heißen Grog trinken, um sich zu erwärmen, das heißt so viel, als aus einem Hundertmarkschein einen Fidibus machen. Dieser augenblicklichen Erwärmung folgt übrigens eine um so empfindlichere Abkühlung auf dem Fuße. In Fällen, in denen solcher Zuschuss von Wärmeenergie nötig scheint – wie es z.B. im Schützengraben im Winter der Fall war – da tut eine Tasse gut warmer Tee bessere Dienste. Wir verderben auch dadurch, dass wir die Speisen zu heiß essen, unsere Zähne. Nicht nur, dass sie den Schmelz der Zähne zerstören, sie verweichlichen auch das Gewebe, welches das Bett des Zahnes bildet. Wenn die Menschen wüssten, wieviel an ihren hohlen Zähnen auch die heißen Speisen schuld haben, würden sie vorsichtiger werden. – Occ./1921

(NA21/2-21)