Vom Wert des Überlebenskampfes (1930)
Derjenige, der um alles, was er erreichen will, erst kämpfen muss, bildet sich zu einem starken Charakter aus. Er wird selbst in Stürmen, die für andere bedrohlich wären, vorwärts kommen. Er wird stark und kühn und darf Dinge versuchen, die dem Durchschnittsmenschen als unmöglich erscheinen, und zum allgemeinen Erstaunen hat er auch meist den erstrebten Erfolg dabei, falls er seiner Arbeit nur nicht überdrüssig wird und sie aufgibt, etwa weil sie zunächst nicht geschätzt oder gar verlacht wird. Derjenige, der im Schoße des Luxus aufwächst, wird leicht weich und schlapp. Nach außen mag zwar ein solcher Mensch stark und überlegen erscheinen, allein an innerer Kraft, auf die es doch ankommt, besteht fast stets ein Mangel, der bei den schwierigsten Arbeiten fast stets zu einem Versager führt. Wenn dies Wahrheit ist, warum streben dann sonst ganz vernünftige Männer und Frauen danach, ihre Kinder in Wohlleben zu erziehen? Warum arbeiten und kämpfen die Eltern, um ihren Kindern den eigenen Kampf für alles Wesentliche im Leben zu ersparen?
Mit nichts kann man die menschlich wertvollsten Eigenschaften der Kinder für ihre irdische Wanderung so schnell und sicher vernichten, als wenn man sie verwöhnt. Es ist gewiss richtig, ihnen eine gute Lebensart und Erziehung angedeihen zu lassen und in ihnen auch den Sinn für eine wahre, d. h. entspannende Behaglichkeit zu bilden, aber es muss dabei doch gleichzeitig dafür gesorgt werden, dass die Kinder auf sich selbst vertrauen lernen, selbständig werden und in keine Abhängigkeit von den Menschen ihrer Umgebung geraten. Die Verwöhnung hingegen macht die Kinder weich, abhängig und schüchtern. Sie hassen es dann meist, von Hause fort zu gehen und die Härten des Lebens Auge in Auge zu ertragen und etwas wirklich Wertvolles zu wollen und zu vollbringen. Alle großen Leistungen erfordern zähe Arbeit, Selbstaufopferung und Standhaftigkeit. Reichtum und Genuss sind hierfür starke Hemmschuhe.
Kinder müssen stark und tapfer werden, nicht körperlich nur, sondern auch moralisch. Sie müssen den vollen Mut für die Beschwerden des Lebens und für die Widerstände der Menschen finden. Sie müssen es ertragen lernen, dass auch die besten Absichten oft genug verkannt werden. Sie müssen die Kunst können, sich selbst trotz solcher Entmutigungen treu zu bleiben und auf dem erkannten Wege allein vorwärts zu schreiten. Es gibt viele schöne Vorbilder in der Geschichte, die uns zeigen, was die großen Tatmenschen zu erdulden hatten. Sokrates opferte sein Leben für die von ihm erkannte Wahrheit. Die meisten der frühchristlichen Apostel erlitten in ihrer Arbeit für die Ausbreitung der Religion der Liebe den Märtyrertod. Und trotzdem waren diese Lebensläufe glorreiche Erfolge, denn sie dienten der Menschheit wahrhaft zum Fortschritt; sie haben den Lauf der Weltgeschichte maßgebend verändert.
Je weniger die Eltern und Erzieher einer jeden jüngeren Generation ihr das eigene Handeln und Verantwortlichsein ersparen, um so mehr würde dies nicht nur der Jugend selbst dienen, sondern auch dazu beitragen, dass das gesamte menschliche Leben um ein gutes Stück gehoben wird. Die Welt hat es mehr denn je nötig, dass ihr furchtlose Männer und Frauen gegeben werden, die den Mut haben, allerbeste Leistungen auch unter schwierigen Umständen, ja unter offensichtlicher Verkennung zu vollbringen. Die Welt ist trotz der Jahrtausende alten Menschheitsgeschichte noch wenig weise geworden. Dass immer noch die besten Köpfe in ihren vorwärtsschauenden Plänen missverstanden und verlacht werden — gerade das ist ein Beweis, dass solche mutigen Köpfe der Welt bitter nötig sind!
(Aus dem Amerikanischen, 1930)