Der Mythos der Steuerung

Eine Menge Menschen glauben tatsächlich, dass »alles von den geheimen Eliten« gesteuert sei. Jedes Weltgeschehen, jede politische und wirtschaftliche Entscheidung sei bewusst geplant und herbeigeführt worden. Und der schon seit Jahrhunderten ausgetüftelte Plan würde jetzt vollendet. Ich lehne diese Theorien weitgehend ab, ich halte sie jedenfalls für nicht sehr wahrscheinlich. [1]Jetzt kreischen diese Leute wahrscheinlich gerade vor ihren Bildschirmen auf: »Der ist bestimmt gesteuert, genau von diesen Kreisen, um die Aufmerksamkeit von diesen geheimen Plänen abzulenken! … Continue reading

Selbstverständlich kann nichts auf unserem Planeten, kein System, beliebig gesteuert werden. Dafür sind die Abhängigkeiten aller Beteiligten viel zu komplex. Es ist ein riesiges Geflecht aus Ursache und Wirkung und gegenseitiger Beeinflussung. Wir haben es mit einem unsteuerbaren, autopoietischen System zu tun, das mehr dem selbstorganisierten Chaos unterworfen ist als einem Plan der vor Jahrhunderten von irgendwem ausgearbeitet wurde.

Unser Verhalten beeinflusst andere, andere beeinflussen unser Verhalten. Es ist ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Niemand bildet davon eine Ausnahme. Niemand im System kann sich zum Beherrscher des Systems machen. Der oder die Beherrscher eines Systems müssten also außerhalb des Systems anzusiedeln sein. Einen so jemand gibt es aber nicht. Möglicherweise gibt es Menschen, die von all diesen Zufälligkeiten »nach oben« gespült werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie diese Position in Erfüllung eines übergeordneten Masterplanes besetzt haben. Es gibt einfach Menschen und Gruppen, die die Gegebenheiten für sich Nutzen und dadurch »mächtig« werden. Die, die es nicht schaffen diese Gelegenheiten beim Schopfe zu packen und für sich zu nutzen, die sieht man eben einfach nicht. Die zahllosen Gescheiterten sind unsichtbar in der Zeitläufte. Genauso gehört bei den »Reichen und Mächtigen« das Scheitern und Sterben dazu, Firmen gehen pleite, politische Lobbyarbeit gelingt manchmal, manchmal scheitert sie kläglich. Die Erfolglosen verschwimmen im Dunstkreis der Geschichte, erfolgreiche Familien und Unternehmen sind sichtbar über längere Zeiträume. Deswegen halten sie aber noch lange nicht die Fäden in der Hand und steuern alles aus geheimen Hinterzimmern. Sie können sich ganz offensichtlich besser an die Gegebenheiten anpassen.

Je weiter wir uns auf dem Zeitstrahl fortbewegen, desto komplexer wird das Netz der Abhängigkeiten. Die natürliche Grenze der Komplexität wird mit dem Einsatz von computergesteuerten Abläufen stetig weiter erhöht. Die Erschaffung von »künstlicher Intelligenz« ist lediglich eine logische Folge von bereits längst eingeleiteten Maßnahmen. Die Komplexität steigt damit weiter, und damit auch die Abhängigkeit aller. Letztlich sind wir alle von der Funktionsfähigkeit und ständigen Verfügbarkeit dieses Systems abhängig. Und deswegen wird unser Leben auch immer »komplizierter« anstatt einfacher. Oder wo sind unsere Maschinen, die uns Freizeit schaffen, die uns Arbeit abnehmen und wir im »Zivilisations-Paradies« unser Leben genießen können? – Davon hat man doch vor hundert Jahren geträumt! – Und davon träumen doch heute noch alle! – Aber niemals, auch nicht nur einen Tag lang, ist unser Leben dadurch jemals einfacher, freier und glücklicher geworden.

Wann dieses System zusammenbricht? – Ich weiß es ganz genau: es bricht dann zusammen, wenn es soweit ist, wenn die Zeit reif ist. Der Apfel fällt dann zu Boden, wenn die Zeit gekommen ist, um zu Boden zu fallen. Es passiert, wenn es passiert: weder geplant noch gesteuert noch gewollt. Die Wirklichkeit ist unerbittlich, und der kleine Ausschnitt den wir üblicherweise von ihr Erkennen können, der reicht meist nicht aus um überhaupt eine sichere Prognose abgeben zu können. Wir können Wahrscheinlichkeiten berechnen, der Rest ist Mutmaßung.

 

Dieses Schaubild fand ich mal irgendwo in einem Buch aus den 1920er Jahren. Natürlich sind die heutigen Verflechtungen noch viel extremer als vor 100 Jahren.

Dass man dieses (extrem vereinfacht dargestellte) System irgendwie zentral steuern könnte, dürfte im Bereich der Fabeln anzusiedeln sein. Allein jeder gedachte Gedanke, jeder Wunsch, jeder Regentropfen, jede Atombewegung, hat eine Unzahl von weiteren Verkettungen und Auswirkungen zur Folge. Genauso wie jede Tat oder Unterlassung einer Tat eine Kette an Wirkungen nach sich zieht. Unbeherrschbar, das ewige Gesetz von Ursache und Wirkung, dem wir alle ausgeliefert sind.

Es ist natürlich viel einfacher zu glauben, dass wir unser Leben beherrschen könnten, dass wir einen freien Willen hätten, dass es eine zentrale Steuerung von Eliten gibt und dergleichen Ammenmärchen. Aber im Selbstbeschiss war der Mensch schon immer großartig.

Wir sind dem Malstrom der Geschichte ausgeliefert – genauer: wir sind der Malstrom der Geschichte selbst.

 

References

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1 Jetzt kreischen diese Leute wahrscheinlich gerade vor ihren Bildschirmen auf: »Der ist bestimmt gesteuert, genau von diesen Kreisen, um die Aufmerksamkeit von diesen geheimen Plänen abzulenken! Genau das ist ja der beste Beweis, für die Macht dieser Eliten!! Überall, aber auch überall haben die ihre schmutzigen Finger drin!! Wir haben dich enttarnt, Freundchen! Du Gatekeeper!«