Geburtshilfe und ihre gesamtgesellschaftlichen Folgen

Mittlerweile wird in Deutschland bei rund 30 Prozent aller Geburten eine Entbindung per Kaiserschnitt durchgeführt. Es ist klar, dass ein Großteil dieser Geburten auch auf natürlichem Wege stattfinden könnte und ein derartiger schwerwiegender medizinischer Eingriff nicht unbedingt notwendig wäre. Es ist aber unklar wiviele Geburten wirklich auf »natürlichem« Wege hätten stattfinden können, ohne jegliche medizinische Assistenz oder geburtshilflichen Eingriff. Die Frage ist, welche Folgen dies für kommende Generationen hat. Die Verhinderung der natürlichen Auslese wird damit nur in die Zukunft verschoben. Individuelles Leid mag zwar für den Moment aufgehoben sein, aber es entsteht gleichzeitig eine Verschiebung dieses Leids in die Zukunft und bürdet diese den Nachkommen auf. Je öfter diese Art von Eingriffe stattfinden, desto stärker weren die Auswirkungen in der Zukunft zu spüren sein. Der Mensch ist auch in diesen Belangen mittlerweile einem technisch-zivilisierten System chancenlos ausgeliefert, er ist gewissermaßen als Kollektiv in eine Sackgasse eingebogen und ist unfähig geworden Kehrt zu machen. (Mir ist bewusst, dass Betrachtungen dieser Art leider nichts an diesem zwangsmäßigen Ablauf der Dinge ändern werden. Aber es kann nicht schaden einen Blick auf diese übergeordneten Abläufe zu werfen.)

Wilhelm Schallmayer hat sich bereits im Jahre 1891 mit dieser Fragestellung befasst. So lesen wir in seiner kleinen Abhandlung »Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes«, Seite 7/8:

»Je höher die Leistungen der therapeutischen Medizin steigen, desto mehr werden die folgenden Generationen der Medizin bedürfen… Die Heilkunde nützt wohl dem jeweiligen Individuum, aber auf Kosten der Gattung… Denn je mehr die Heilkunde leistet, desto mehr Individuen von unterdurchschnittlicher sanitärer Erbqualität ehmen an der Fortpflanzung Teil.«

Es wird weiter auf die Auslesehemmungen, welche z. B. die Geburtshilfe zuwege bringt, hingewiesen (ebenda, S. 46 f.):

»Wenn in den Fällen, wo durch mangelhafte Funktion der Gebärorgane oder ungeeigneten Bau des Beckens ein schwerer Geburtsverlauf bedingt wird, mittels ärztlicher Hilfeleistung die Geburt für Mutter und Kind häufiger einen günstigen Verlauf nimmt, als dies ohne ärztliche Hilfe der Fall wäre, so ist das zwar in jedem einzelnen Fall hochverdienstlich, aber für die Gattung […] bedeuten diese Erfolge eine Einschränkung der natürlichen Auslese. Denn die gerettete Frau (wie auch das gerettete Kind) vermögen nun ihre mangelhafte Organisation vielleicht auf ihre Nachkommen zu vererben. Schröder (Lehrbuch der Geburtshilfe 1882, S. 235) schreibt: »Die Indianerin, wenn ihr Stamm auf dem Kriegspfade begriffen ist, und ihre Stunde herankommt, schlägt sich seitwärts in die Büsche, gebärt und holt dann, mit dem Neugeborenen beschwert, den vorausgeeilten Stamm wieder ein.« Wie viel Frauen früherer Generationen mögen solcher strengen Auslese zum Opfer gefallen sein! Die aber, welche ihr genügten, mußten eine Nachkommenschaft produzieren, die den strengen Anforderungen mit wenigen Ausnahmen gewachsen war…

Die Häufigkeit künstlicher Geburten beträgt bei uns jetzt 7% aller Geburten. (Anm.: zu Beginn des 20. Jh.) Wenn man auch annehmen darf, daß in einem erheblichen Teil dieser Fälle die Geburt auch ohne ärztlichen Eingriff zu einem guten Ende gelangt wäre, so bleibt doch die Tatsache der Langsamkeit und Schwierigkeit der Geburten auch in diesen Fällen bestehen, und es bleiben noch bedenklich viele Fälle übrig, bei denen ein geburtshilflicher Eingriff wirklich nötig war, sicher in viel größerer Verhältniszahl als bei wilden Völkerschaften, wo allzuuntüchtige Varianten des Gebärapparates durch die natürliche Auslese stets wieder ausgemerzt wurden, und wohl deswegen die Geburten mit wenigen Ausnahmen schnell und glücklich verlaufen, und die frisch Entbundenen gewöhnlich sofort wieder ihre gewohnte Beschäftigung aufnehmen. Soviel scheint sicher: Je erfolgreicher die Geburtshilfe sich entwickeln wird, desto mehr werden die kommenden Generationen sie nötig haben. Wilde Tiere, die von jeher einer unerbittlich strengen Lebensauslese ausgesetzt waren, gebären so gut wie immer ohne Schwierigkeit. Bei unseren Rindern hingegen hat die Kalamität bereits angefangen, infolge davon, daß die natürliche Auslese auch bei ihnen starke Einschränkung durch künstliche Lebensbedingungen erfahren hat. Bei manchen wilden Stämmen wird die natürliche Auslese noch unterstützt durch abergläubische Anschauungen. So gilt z. B. bei den Eingeborenen des Bondugebietes ein bei anormaler Kopflage geborenes Kind als unglückbringend und wird deshalb erwürgt. Ebenfalls wegen abergläubischer Vorstellungen werden bei manchen Wilden von Zwillingen einer oder beide gleich nach der Geburt getötet (E. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, Leipzig 1907, S. 331). Von den Papagosindianern wird berichtet, daß nach ihrer Meinung der Fötus einen guten Teil Schuld an einer Verzögerung des Geburtsverlaufes trage. Je bedeutender diese sei, um so schlimmer sei das Gemüt des Kindes, daher sei es für den Stamm besser, wenn Mutter und Kind sterben (Ploß, Das Weib, Bd. 2, Leipzig 1891, S. 232). [1]Meiner Ansicht nach sind dies keine abergläubischen Anschauungen, sondern handfeste Erfahrungswerte die sich in einem Kollektivgedächtnis vieler Kulturen eingebrannt haben. Aus moderner Sicht … Continue reading

Der in einem nordamerikanischen Indianerterritorium praktizierende Arzt Dr. Menager berichtete kürzlich (1909) folgenden von ihm beobachteten Fall: Eine Indianerin gebar, auf einer Reise zu Pferd begriffen, ein Kind, schlug infolgedessen die Richtung zum Jesuitenkollegium jenes Territoriums ein, um das Kind taufen zu lassen, und setzte dann, 2 Tage nach der Geburt, ihre anstrengende Reise zu Pferd fort. Bei dieser Gelegenheit wurden ihm vom taufenden Pater noch auffallendere derartige Erlebnisse erzählt. Eine Indianerin kam zu ihm mit einem zu taufenden Kind, das sie unmittelbar vorher während eines 18 Kilometer langen Rittes geboren hatte, und unmittelbar nach der Taufe stieg sie wieder zu Pferd, um zu den Ihrigen zurückzukehren. Überhaupt sollen bei den Assibon- und Grosventre-Indianern und ebenso bei den in Idaho und Washington hausenden die Frauen nach der Entbindung niemals der Ruhe pflegen (Pol.-anthr. Rev., 1909, S. 617). — Daß die Kultur nicht unbedingt Verschlechterung hierin bringen muß, zeigt uns das alte chinesische Kulturvolk, dessen Frauen »in ganz auffälliger Weise leichter und schneller entbinden«, als dies im allgemeinen bei uns der Fall ist (H. Gaupp, Zeitschrift für Ethnologie, 1909, Heft 5, S. 733).« Soweit Schallmayer.

References

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1 Meiner Ansicht nach sind dies keine abergläubischen Anschauungen, sondern handfeste Erfahrungswerte die sich in einem Kollektivgedächtnis vieler Kulturen eingebrannt haben. Aus moderner Sicht würde man bei Verzögerungs- oder Schwergeburten ganz klar von einem Geburtstrauma des Kindes sprechen. Die Geburt ist für einen Menschen absolut prägend für das weitere Leben. Der oben genannte Verzögerungsverlauf einer Geburt, z.B. »Steckenbleiben« im Geburtskanal, erzeugt tatsächlich Menschen die allgemein etwas »langsamer« sind. Auffällig häufige Vertreter dieser Sorte Mensch sind Phlegmatiker, Schwermütige, Depressive, Melancholiker usw. Dagegen sind Menschen die durch eine problemfreie Geburt zur Welt kamen mit zahlreichen Vorzügen im späteren Leben gesegnet – die diesen Menschen aber selten selbst bewusst sind weil es als »normal« empfunden wird. Menschen die bei einer Problemgeburt auf die Welt kamen haben oft psychische und körperliche Mängel die erst im späteren Alter – oder leider überhaupt nicht – erkannt werden. Diese Mängel werden selten vom sozialen Umfeld erkannt und noch seltener durch eigene Erkenntnis (Selbsterkenntnis) wahrgenommen, aber das heißt nicht, dass es sie nicht gäbe. Sie gibt es, sie werden aber nicht gesehen und nicht beachtet: Nachts sind alle Katzen grau, und wer mit Lahmen lebt lernt hinken… oder: Gleich und Gleich gesellt sich gerne.

Insbesondere im Hinblick auf ein weitgehend natürliches Umfeld bei den Indianerstämmen, deren Überlebensgarantien in einer erfolgreichen Jagd oder einer erfolgreichen Abwehr oder dem Angriff auf äußere Feinde lagen, kann man solche »Problemkinder« einfach nicht brauchen. Sie sind in einem unzivilisierten Umfeld völlig lebensuntauglich, nicht überlebensfähig und würden ohnehin das fortpflanzungsfähige Alter nur schwerlich erreichen (Tod durch Verletzung, allgemeine Kampfuntauglichkeit durch mangelnde Schnelligkeit usw.). Im Gegensatz dazu kamen ausgesprochene Frühgeburten (Brutkastenkinder) in früheren Zeiten fast gar nicht vor, denn dies hätte meist den sofortigen Tod des Kindes bedeutet. Diese Menschen weisen häufig eine Tendenz zu einer eher oberflächlichen bzw. unaufmerksamen oder auch lauten Art auf (»Zappelphilippe«). Die heutige zivilisierte Welt bietet allerdings all solchen Persönlichkeiten einen Raum zur freien Entfaltung und Fortpflanzung, und damit auch die erbliche und erzieherische Weitergabe dieser Mängel. Dies wäre in früheren Zeiten mangels Möglichkeiten nicht möglich gewesen. Früher war die auslesende Hand der Natur in dieser Hinsicht wesentlich strenger. Weder die »Verzögerungskinder« noch die Frühgeburten wären in einer unzivilisierten Welt überlebensfähig gewesen, in der sich nur die robustesten und anpassungsfähigsten Exemplare einer Gattung durchsetzen können und auch nur diese fähig waren ihre Erbanlagen an kommende Generationen weiterzugeben.