Der gesundheitliche Wert des Fastens

 

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass wir Menschen im allgemeinen zu viel und zu oft essen und uns dadurch an unserer Gesundheit mehr schädigen als durch die Anstrengungen unseres Berufslebens. Der Grund dieser Unmäßigkeit liegt hauptsächlich in der Unnatürlichkeit vieler unserer Nahrungsmittel, die mehr Genuss- und Reizmittel als wirkliche, der menschlichen Natur entsprechende Nahrung sind. Dazu kommt das mangelhafte Kauen und hastige Essen, die schlechte Einteilung der Esszeiten und Erholungspausen im modernen Erwerbsleben, besonders der städtischen Bevölkerung, und nicht zuletzt die den meisten Menschen angeborene oder anerzogene Gier nach Gaumenlust die durch die übermäßige Wertschätzung des Nahrungseiweißes seitens der offiziellen Ernährungsphysiologie noch gesteigert wird. Die Nahrungszufuhr soll beim Erwachsenen das durch den Stoffwechsel verbrauchte Körpermaterial ersetzen. Sie muss daher in einem richtigen Verhältnis zu den Ausgaben des Organismus stehen bezüglich aller in Frage kommenden Stoffe, wie Eiweiß, Fett, Zucker, Stärkemehl, Salze, Wasser und Duftstoffe. Wird nun aber dauernd zuviel eingeführt, so kann dieses Übermaß weder richtig verdaut, noch in normaler Weise durch den Stoffwechsel verbraucht werden. Abgesehen von den so häufig auftretenden Magenkatarrhen kommt es bei unseren Viel- und Oftessern allmählich zu Magen- und Darmerschlaffung mit Blähungsbeschwerden, Säurebildung, Verstopfung und Durchfall, und im weiteren Verlauf zu Lebererkrankung, Hämorrhoiden, bei Frauen zu Unterleibserkrankungen, kurz zu dem ganzen Heer von Übeln der modernen Menschheit, die alle ihre Ursache vornehmlich in gestörtem Stoffwechsel haben.

Mangelhaft gekaute, schlecht eingespeichelte Bissen und übergroße Nahrungsmengen überhaupt gehen im Darm bei der feuchten Wärme von 37 ° C. leicht in faulige Gärung über. Die so entstehenden, übelduftenden Gase treiben den Darm belästigend auf, treten ins Blut über und verpesten so den ganzen Körper.

Daher auch die abscheuliche Ausdünstung der starken Esser, der widerwärtige Mundgeruch überfütterter Kinder, der üble Duft ihrer Kopfhaare. Wer kennt nicht die Trägheit und Schlaffheit, die launenhafte Stimmung und Nervenschwäche, die geschlechtlichen Reizzustände und seelischen Störungen unserer Schwelger, und wer weiß nicht, daß gerade diese Menschen es sind, die das gierige Verlangen nach den Reizmitteln des Tabaks, des Alkohols, des Bohnenkaffees usw. haben, um im Kampf ums Dasein einigermaßen und auf kurze Zeit bestehen zu können?!

Jene in den feuchten Geweben zurückgehaltenen Ekeldüfte sind die wahre Ursache der Verwässerung, Verfettung und Versäuerung unserer Gewebe und der Verlangsamung des Stoffwechsels, die zur Bildung von giftigen Schlacken (Fremdstoffen) führt. Prof. Dr. Gustav Jäger, einer unserer hervorragendsten Biologen, hat als erster auf die Tatsache hingewiesen, daß die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen mit steigendem spezifischem Gewicht zunimmt, und daß Abhärtung nicht eine Gewöhnung an Kältereize, sondern Entwässerung der Gewebe (Hartmachen unserer Muskeln und sehnigen Häute) bedeutet. Diese Stählung der Leiber geschieht durch richtige, poröse Kleidung, bewußte Atmung, vernünftige Ernährung und vor allem durch Schwitzen bei der Arbeit und beim Sport, womöglich unbekleidet in unserem nicht hoch genug zu schätzenden Lichtluftbad!

Es kommt in der Tat weniger darauf an, was man ißt, als daß man stets mäßig, nur bei wirklichem Hungergefühl und diejenige Nahrung ißt, wonach man ein ausgesprochenes Verlangen hat. Viele Menschen essen aber nach dem Stand der Uhr und betrachten es beinahe als eine Sünde, auch nur eine Zwischenmahlzeit auszulassen. Der Appetit gerade nach der oder jener Speise zeigt uns instinktiv das Bedürfnis nach gewissen Nahrungsstoffen an, seien es nun Ersatz- und Baustoffe oder Wärmebildner, also bald mehr Eiweißstoffe oder Fett und Zucker. Wer dieser Stimme der Natur gehorcht, wird bald von selbst auf immer einfachere Nahrung kommen, ja schließlich zur wahrhaft menschenwürdigen vegetarischen Diät mit Bevorzugung der Früchte, während der Verbildete von heute, gewohnt auf die Lehrsätze der Schulmedizin zu schwören, mit seiner »kräftigen« Eiweißkost und Eiweißmast häufig der Blinddarmentzündung, der geschlechtlichen Überreizung und dem Krebs verfällt, von den verhältnismäßig leichteren Übeln ganz abgesehen.

Viele Leute glauben, daß das Essen unmittelbar und sofort ihre Kräfte stärke und sie zur Arbeit befähige. Das ist ein großer Irrtum. Die Verdauung ist vielmehr ein viel Kräfte verbrauchender, überaus vielgestaltiger Vorgang. Die Nahrungszufuhr stellt also zunächst keine neuen Spannkräfte zur Verfügung, sondern erfordert vorerst solche vom Hirn und Nervensystem. Daher soll man nie im ermüdeten Zustand eine reichliche Mahlzeit zu sich nehmen, sondern durch Ausruhen neue Kräfte sammeln und dann erst essen. Aus diesem Grunde sind auch die Zwischenmahlzeiten im allgemeinen verwerflich. Sie entspringen meist keinem wirklichen Bedürfnis nach Nahrung, also keinem tatsächlichen Hungergefühl, sondern sind ein Zeichen einer gewissen Erschöpfung der Kräfte; sie sollten durch eine Ruhepause mit Erschlaffung der Muskeln und Fernhaltung der Gedanken an Geschäft und Arbeit ersetzt werden. In diesem Zustand aber zu essen ist nur eine Aufpeitschung der armen Nerven, eine Täuschung über das Ermüdungsgefühl und führt allmählich zum Nervenbankrott. Der Organismus kann nicht zugleich verdauen und verbrauchte Stoffe ausscheiden, sondern er besorgt bald das eine, bald das andere Geschäft.

Beim Viel- und Oftesser aber muß er, wenn der Darminhalt nicht in lebensgefährliche Fäulnis übergehen soll, zunächst das Verdauungsgeschäft, so gut und so schlecht es geht, vornehmen. Dann erst kann er, wenn noch Zeit und Kraft übrig ist, an die Reinigung der Organe herantreten. Es liegt auf der Hand, und jedermann kann sich mit seiner Nase überzeugen, daß dieser überaus wichtige Vorgang zu kurz kommt. Daß diese Unmäßigkeit auch die Ursache der vielen plumpen und häßlichen Körper, des Mangels geistiger Entwickelung, des philiströsen und ideallosen Treibens der »Allzuvielen« ist, wer wollte dies leugnen?! Während das Essen eine Quelle neuer Kraft, eine schöpferische Tat zur Erhaltung und Aufbau des »Tempels des heiligen Geistes« sein soll, wird das Vielessen zum Fluch und entwürdigt den Menschen.

Wenn also die Mäßigkeit unser Ziel sein soll, und wenn wir sehen, wie die Natur selbst die Fehler des Zuvielessens und Zuoftessens durch allerlei Störungen und Krankheiten auszugleichen sucht, um den Menschen endlich doch noch auf die richtige Bahn zu bringen, so wird uns auch von vornherein rein theoretisch das zeitweise Fasten, d. h. die Enthaltung von Nahrung für kurze Zeit, sowohl als ein gutes Mittel gegen die Folgen der Unmäßigkeit als auch als ein hervorragendes Vorbeugungsmittel einleuchten.

Das freiwillige Fasten ist weder eine Strafe noch ein Verdienst, sondern ein naturgemäßer Ausgleich, eine Schonung der überanstrengten Verdauungswerkzeuge, ein Verfahren, die goldene Mittellinie zu finden zwischen dem Vielessen und der – bei uns allerdings recht selten vorkommenden – Unterernährung. Wenn manche Mutter den erzieherischen und willenstärkenden Wert gelegentlichen Fastens kennen würde, wie leicht könnte sie über die geschlechtliche Frühreife, die Energielosigkeit und Trägheit ihrer Kinder klar werden, während sie heutigen Tages ihre Lieblinge in bester Absicht durch üppige, besonders durch fett- und eiweißreiche Kost und die üblichen sonstigen Reiz- und Genußmittel der krankhaften Sinnlichkeit und der Entartung geradezu in die Arme treibt.

Für viele ist schon das Weglassen der zweckwidrigen Zwischenmahlzeiten eine große Entbehrung und wirkt bereits im Sinne eines milden Fastens. Ja, es treten dabei manchmal Kopfschmerz, Schwächegefühle, Zittern, Augenflimmern und Ohnmachtsanwandelungen auf, ein Beweis, wie sehr diese Oftesser nervös überreizt und geschwächt sind. Aber auch ein Beweis andererseits, daß die Lebenskraft, die den Körper aufgebaut hat, sofort mit Heilvorgängen einsetzt, wenn sie nur mit überflüssiger Verdauungsarbeit kurze Zeit nicht behelligt wird. Dass in der Tat Ausscheidungen kritischer Art schon nach kurzem Fasten eintreten, kann man besonders gut bei Gichtkranken im Urin nachweisen.

Man kann das Fasten je nach den äußeren Verhältnissen und den körperlichen Bedürfnissen auf die verschiedenste Art durchführen. So hat z. B. in Amerika das Morgenfasten, d. h. das Weglassen des Frühstücks, große Verbreitung gefunden. Wieder andere lassen das Abendessen weg und begnügen sich mit Frühstück und Mittagessen. Manche Leute genießen des Morgens nur eine Tasse warme Zitronenlimonade oder einen harmlosen Kräutertee, nehmen also eine Art Magenspülung vor, ohne feste Nahrung einzuführen. Ein gutes Verfahren ist es auch, jede Woche an einem bestimmten Tage 1 bis 2 Mahlzeiten wegzulassen und erst gegen Abend einen bescheidenen Imbiss zu nehmen. Bei Kindern genügt oft das Weglassen von nur einer Mahlzeit, um Störungen aus begangener Unmäßigkeit auszugleichen. Belastete Erwachsene aber sollten, wenn sie ohne Berufsstörung die Folgen ihrer Unmäßigkeit im Essen tilgen wollen, jede Woche regelmäßig 24–36 Stunden lang fasten.

Ich empfehle solchen Leuten, falls ihnen die Enthaltung von Nahrung schwer fällt, was im beruflichen Leben von Bedeutung werden kann, zu den gewohnten Mahlzeitsstunden einen warmen deutschen Tee zu trinken. Es ist auffallend, wie sich der Magen danach zufrieden gibt und bald kein Verlangen nach derberer Zufuhr mehr zeigt. Eine sehr gute Kräutermischung ist zu diesem Zweck: Hagebuttenfrüchte, Erdbeerblätter und Brombeerlätter. Man kocht einen Kaffeelöffel voll fein geschnittene Hagebutten etwa 10 Minuten lang mit ½ Liter Wasser, wirft dann einen Kaffeelöffel voll von der Mischung von Erdbeer- und Brombeerblättern dazu und läßt etwa noch 5 Minuten ziehen. Man kann diesen prachtvoll aussehenden und wohlduftenden Tee schwach mit Zucker oder Honig süßen.

Von Wichtigkeit ist es bei solchem Fasten, die Eßpausen zum Ruhen zu verwenden, also zu schlafen oder wenigstens abzuliegen, wenn die anderen essen. Das erfrischt ungemein und gibt neue Spannkräfte auch ohne Nahrungszufuhr. Wir dürfen getrost behaupten, daß man in unserer Zeit viel zu wenig kleine Ruhepausen macht, die dem Körper nötiger wären als Zwischenmahlzeiten, daß man ferner zu viel und zu hastig arbeitet und viel zu wenig bewusst atmet. Diese Umstände verschlechtern unseren Stoffwechsel, machen uns vor der Zeit schlaff und alt und bilden auch bei Verständigen eine große Gefahr, beim Nachlassen der Kräfte Anleihen bei den Reizmitteln zu machen oder zur »kräftigen« Nahrung zu greifen. Dass aber eine üppige Kost in solchem Falle den Zusammenbruch beschleunigt, liegt auf der Hand. Sylvester Graham urteilt über die Fresser ungünstiger als über die Säufer. Er sagt, ein Säufer könne alt werden, ein Fresser aber nicht. Damit soll nicht gesagt werden, daß der Alkohol unschädlich sei – seine Schädlichkeit zeigt sich oft erst in der Entartung der Nachkommen –, sondern nur, dass unter allen Umständen der Missbrauch der Nahrung schlimmer sei als der unmäßige Genuss sogar eines als giftig anerkannten Stoffes.

In allen schweren und tiefer liegenden Krankheitsfällen kommt man mit gelegentlichem und kurzdauerndem Fasten nicht aus oder der Heilvorgang beansprucht eine zu lange Zeit. Da muss man vielmehr zu einer regelrechten Fastenkur greifen. Sie gibt dem Organismus die beste Gelegenheit zu einer gründlichen Reinigung (Regeneration) aller Gewebe, und sie überragt bezüglich der Einfachheit und der tiefgreifenden Wirkung ihrer Mittel alle anderen Heilverfahren.

 

Dr. Gustav Riedlin, aus: »Naturarzt« 1910 Nr. 9