Übertriebene Friedfertigkeit

Es gibt Eltern, die da meinen, immer zum Nachgeben, immer zum Dulden anhalten zu müssen. Die Kinder sollen sich nicht wehren, nicht zanken. »Warum hast du dich mit ihm eingelassen?« sagt die Mutter, »der Klügere gibt nach!«

Ich weiß nicht, ob es gerade der Klügste war, der dieses Sprichwort der Welt hinterlassen hat. Es ist nicht immer Klugheit, die nachgibt, es ist eben so oft Schwäche, Schwäche, die durch allzu häufiges Nachgeben entstanden ist. Gewiss ist eine friedfertige Gesinnung bei einem Kinde etwas Schönes, und es wird niemand geben, der sich sein Kind streit- und zanksüchtig wünscht. Aber etwas anderes ist mit der Friedfertigkeit um jeden Preis. Wie oft habe ich schon gesehen, dass so ein kleiner Taugenichts von einem Jungen ohne jede Veranlassung auf einen anderen, ihm ganz fremden Jungen losschlägt, und dass dieser seine helle Not jammert und weint. Das ist so eine Friedfertigkeit, die nicht am Platze ist. Was nützt es, wenn der Junge hinterher von seiner Mutter bedauert wird, er hat seine Prügel weg. Nein, sagt ihm, dass er sich wehren soll; haltet ihn an zu körperlichen Übungen, die ihn kräftigen und stählen, damit er seinen Mann stehen kann. Lehrt ihn, dass man andere Kinder nicht überfällt, dass aber der Überfallene sich kräftig zu wehren hat. Tröstet ihn nicht, wenn er einmal »etwas abbekommen« hat, das macht ihn nur weichlich. Ängstliche Gemüter fürchten immer gleich, das derartige Grundsätze das Gemüt verrohen. Durchaus nicht! Man übernimmt doch nicht alle Kindergewohnheiten mit in das Jünglings- und Mannesalter. Wer als Junge leicht geneigt war, die Faust reden zu lassen, der ist noch lange nicht als Jüngling ein Raufbold. Sein Verstand wächst doch mit den Jahren und sagt ihm, dass es sich für Kinder sehr wohl schicken mag, Meinungsverschiedenheiten einmal mit der Faust zu erledigen, nicht aber für Erwachsene. Aber Furcht hat er nicht davor; er hat in seinen kindlichen Kämpfen Mut und Entschlossenheit erworben, und die braucht der Mensch.

Der Mann, dem man in seiner Kindheit immer Nachgiebigkeit predigte, wird gewiss kein Kämpfer. Dulden, leiden, Amboss sein, niemals Hammer, das ist kein Los. Schlechte Menschen benutzen ihre Kraft, ihn zu unterdrücken. Gute Menschen tun ihm unwissentlich Unrecht; er erträgt es, er hat es nicht anders gelernt. Aber diese übergroße Friedfertigkeit hat auch noch eine andere bedenkliche Folge. Die Menschen, die sie preisen, predigen auch meist allgemeine Menschenliebe, und ach, wie oft kann man diese gar nicht ohne Kraft und Mut betätigen. Sie stellen es mit Recht als unsere Pflicht hin, unserem Nächsten in Gefahr beizustehen; das erfordert aber Mut und Entschlossenheit, und diese sind bei Friedfertigen meistens nicht ausgebildet, weil er jede Gelegenheit zu ihrer Ausbildung mied und meiden musste. Weg mit solcher übertriebenen Friedfertigkeit, sie macht uns wehrlos und gibt uns die Gewalt schlechterer Elemente, die ihre Kraft skrupellos missbrauchen. Wir brauchen nicht zu befürchten, dass ein weiches Gemüt sich nicht mit Kraft paaren könne. Die Lebensgeschichte unserer größten Männer beweist uns, wie gut es möglich ist.

A. R. Leppin, 1902.